Mit Rousseau in der S-Bahn oder: Von der natürlichen Ordnung der Menschen

rousseau

Platon hat es in der Politeia versucht, Jean-Jacques Rousseau hat den Gemeinwillen in Spiel gebracht; ihnen und vielen anderen Denkern ist es zu verdanken, dass sie den Entwurf eines Gemeinwesens lancieren, der den Mensch als Naturtier so weit domestiziert, dass er seinem Gegenüber nicht bei nächstbester Gelegenheit an die Kehle fährt, gleichzeitig aber möglichst nahe seinem Urzustand verweilen lässt, auf dass er sich nicht aufs Gröbste verböge und dereinst bei Kundendienst-Helplines, in Internet-Foren oder Paintball-Arenen mal richtig Dampf ablasse.

Dabei plagen sich die meisten der Autoren, die sich mit dem Thema befassen, über mehrere Dutzend Seiten damit ab, was denn der Urzustand des Menschen überhaupt sei, bevor sie überhaupt eine Theorie aufstellen können, wie das Gemeinwesen sich idealerweise selber regiere. Den Aufwand hätten sie sich allesamt sparen mögen – lieber eine halbe Stunde früher einen an der Bar des Philosophes hinter die Binde kippen – denn den Nachweis über den Urzustand des Menschen und die Etablierung des Gemeinwillens erbringe ich täglich, wenn ich mit der S-Bahn zur Arbeit fahre.

Der Zug hält, die Türen öffnen sich.Es präsentieren sich zwölf Abteile, sechs zur linken, sechs zur rechten Seite. In jedem Abteil sitzt genau ein Zeitgenosse (darf auch eine Zeitgenossin sein, Nachweis kann problemlos geschlechterübergreifend erbracht werden). Die Übungsstellung erlaubt nicht, sich still und leise in ein einzelnes, unbesetztes Abteil zu drücken, was ich ohne Zweifel auch tun würde, sondern ich bin gefordert, ein Abteil zu wählen, in welchem ich mich zu einem bereits sitzenden Mitmenschen gesellen werde.

Ich wähle den Jungbanker, der gipfeliessend in eine Pendlerzeitung vertieft ist. Ist dies der eigentliche Urzustand des Menschen – der solitäre Jäger, Selbstversorger im wahrsten Sinne des Wortes, der sich ohne weitere Erwartung dem Zyklus Jagd-Essen-Koitus-Schlaf hingibt, bis dereinst ein Säbelzahntiger mit ebensolcher Hingabe seinen Oberschenkel kauen wird, wie er es jetzt mit dem Gipflei tut?

Ich setze mich, ein unverständliches “frei?” murmelnd. Der Blick, den mir der Jungbanker zuwirft, hat mit Freundlichkeit nichts zu tun – im besten Falle wägt er die Qualität meines Oberschenkels ab. Hilft aber nichts: Ich sitze. Von nun an ist es vorbei mit Solitär, wir reisen gemeinsam, und wenn wir nun auch nicht das Reiseziel des Gegenübers zur jeeigenen Bestimmung machen, so sind wir doch vereint im Zweck, mittels der S-Bahn voranzukommen. Somit ist der Gemeinwillen in seiner ursprünglichsten Form etabliert.

Dies mag über eine, zwei Stationen gut gehen. Je mehr sich die S-Bahn jedoch dem Ballungszentrum nähert, desto höher wird die Menschendichte, bis es sich nicht mehr vermeiden lässt, dass trotz offensichtlicher Signale ein dritter Mitmensch Einlass in die Abteilgemeinschaft begehrt. Gleiche Prozedur: Unfreundlicher Blick, und zwar vom Jungbanker und von mir, danach Einsitznahme in die Reisegemeinschaft. Gemeinwille erweitert.

To be continued: Pendleretikette. Do’s and Don’ts in der S-Bahn.

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