La Foule

Edith-Piaf01Chanson – wer an diese französische Liedform denkt, denkt unweigerlich an die Sängerin Edith Piaf, und wer dies tut, dem kommt ihr “je ne regrette rien” in den Sinn, dieses in Musik gesetzte trotzige Insistieren wider besseres Wissen, keinen Entscheid, kein Gefühl in ihrem Leben bedauern zu müssen. Gehört zwingend auf jede Playlist für Liebeskummer-Geplagte und Altersmilde.

Ohne Zweifel ist dies eines ihrer bekanntesten Chansons – nicht jedoch mein liebstes. Das wäre dann “La Foule” – die Menge. Die Geschichte ist schnell erzählt: Die Sängerin steht inmitten einer feiernden Menge, ein Volksfest wohl. Unter freiem Himmel wird gelacht, gerufen, man hört Musik. Die Menge wogt, bewegt sich einem unbekannten Ziel entgegen. Edith fühlt sich ihrer Sinne beraubt, dreht sich um, wohl um einen etwas ruhigeren Platz aufzusuchen, und wird einem fremden Mann in die Arme geworfen. Die Menge reisst beide mit, drückt sie aneinander, als ob sie ein einziger Körper wären. Was den meisten von uns unangenehm wäre, für die beiden ist es höchstes Glück. Einander völlig unbekannt, geniessen sie die aufgezwungene Vertrautheit, sie lachen, sie strahlen, sie sind glücklich. Doch mit der gleichen Macht, mit der sie die zwei Liebenden zusammengebracht hat, trennt die Menge die beiden auch wieder, und so sehr sie dagegen auch ankämpfen, einander noch ihre Namen zuzurufen versuchen, es ist vergebens; Edith bleibt alleine zurück. In ihren letzten Zeilen verflucht sie die Menge, die ihr das Glück nur kurz gewährt und auch gleich wieder entrissen hat.

Raschen Schrittes führt uns dieser Blogeintrag nun ins Allegorische: Wie sehr doch dieses Bild unserem eigenen Leben gleiche; kaum unserer Mutter entnommen, taumeln wir einem unbekannten Ziel entgegen, mitgerissen von einer Macht, die wir nicht kennen. Plötzlich finden wir den Menschen, für den wir bestimmt zu sein glauben, doch bereits ist er uns wieder entrissen, von dem selben seltsamen Leben, das ihn uns geschenkt hatte… Doch dies sparen wir uns für die Sonntagspredigt.

Ich weiss den Milchkartonpathos in diesen Worten durchaus zu erkennen; ich mag aber an diesem Chanson, wie geschickt der Komponist und der Arrangeur dieses Taumeln, das Ausser-Kontrolle-Sein in ihre Musik einbauen. Holpernd walzert das Orchester durch das Lied, holpernd nicht zuletzt, weil es ein “kreolischer” Walzer ist, eine Vermischung des klassischen europäischen Walzers mit südamerikanischen Einflüssen. Da kommt das Lied nämlich auch her, Edith Piaf hatte das Original “Que nadie sepa mi sufrir” (auf dass keiner von meinem Leiden erfahre) 1953 auf einer Südamerika-Tournee gehört, worauf sie Michel Rivgauche bat, zur Musik von Ángel Cabral einen neuen, französischen Text zu dichten, der nichts mit der argentinischen Vorlage mehr gemeinsam hatte. Dieser Coversong wurde dann zum Hit in Frankreich, worauf das Original in Südamerika eine zweite Blüte erlebte.

Nur gerade die ersten zwei von den elf Strophen des Liedes befassen sich mit der Darlegung der Ausgangslage, bereits im letzten Vers der zweiten Strophe treffen die beiden Liebenden aufeinander. Die nächsten sechs Strophen schildern sehr intensiv das kurze Zusammensein des Paares, und im letzten Vers der achten Strophe werden sie erneut entzwei gerissen. Die letzten drei Strophen geben Edith Piaf die Gelegenheit, den Verlust zu betrauern, ihre Wut auf die Menge auszudrücken, die ihr Glück geschenkt, doch gleich wieder entrissen hat.

Nun erwarten wir als geübte Benutzer der modernen Bildsprache, dass dieser kurze Moment des losgelösten Glückes in eine art ätherische Blase gehüllt werde, dass die sechs Strophen des Zusammenseins in bedeutend langsamerem Tempo gespielt würden, so in einer Art musikalischen Zeitlupe, sphärisch entrückt vom Getümmel rund herum. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Sprache wird aufgeregter, die Verse werden deutlich kürzer, kaum mehr als vier Worte pro Zeile, atemlos dahingeschmettert, während das Orchester einer kaputten Leier gleich voranrumpelt (“wummernde Bässe” wäre wohl der zeitgenössisch angepasste Begriff”), die beiden Liebenden aufeinander drückt, voranreisst, weg von hier, in eine mehr als ungewisse Zukunft.

Elfte Strophe. Getrennt von der frisch gefundenen Liebe steht die arme Edith nun da, verflucht die Menge, die weiterhin um sie tobt. Grosses Drama in 44 Zeilen. Rückschlüsse auf ihre eigene Biographie sind – wie immer bei Frau Piaf – auch bei diesem Chanson ausdrücklich erlaubt.

Die Hörprobe
Aufnahme mit französischen Untertiteln

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